Rede von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbandes auf der Mitgliederversammlung des Landesverbandes Sachsen-Anhalt am 16. 09. 2016 in Magdeburg

15.11.2016

Sehr geehrte Abgeordnete des Sachsen-Anhaltinischen Landtages, sehr geehrte Frau Staatssekretärin Möbbeck, lieber Herr Kollege Wendt, liebe Frau Girke, liebe Paritäterinnen und Paritäter, sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen recht herzlich für die Einladung, auf ihrer Mitgliederversammlung zu sprechen. Es ist mir ein Vergnügen nach mehreren vergeblichen Anläufen und nach  mehr als vier Jahren und einige Monate nach meiner Wiederwahl als Vorsitzender des Gesamtverbandes endlich auch einmal zu einer Mitgliederversammlung des hoch geschätzten LV Sachsen Anhalt zu kommen.

Der LV Sachsen Anhalt des PRITÄTISCHEN ist mit seinen fast 300 Mitgliedsorganisationen, mehr als 2500 Einrichtungen, Projekten, Angeboten und Diensten, fast 20.000 hauptamtlich und mehr als 12.000 ehrenamtlich Beschäftigten die größte Organisation der Freien Wohlfahrtspflege im Lande, erfolgreich tätig in der Jugend- und Familienhilfe, der Altenhilfe, der Hilfe für Menschen mit Behinderung, der sozialen und psychosozialen Versorgung, der Migrantenhilfe, der Drohgen- und Suchtkrankenhilfe, der Hilfe für Arbeitslose und auch für Straffällige, der Bildung, der Gesundheitsförderung und Krankenversorgung sowie der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe. Diese Fülle und die erreichte Größe - das ist eine immer wieder ehrfurchtsgebietende Erfolgsgeschichte seit der Wende, und nur wenige hätten vor 26 Jahren an diesen Erfolg geglaubt. Umso größer unser Respekt und unsere Anerkennung für diejenigen, die seit den Anfängen, zumindest aber seit Langem dabei sind. Sie gilt es zu ehren – aber dazu kommen wir später.

Sie haben mich gebeten, heute etwas zum Thema Werte zu sagen. 
Das war – finde ich – eine gute Wahl. Denn gerade in Zeiten, in denen einem täglich neue unerfreuliche bis schreckliche und auch Angst machende Nachrichten um die Ohren fliegen, in denen vielfach die Orientierung abhanden zu kommen droht, ist es richtig und notwendig, über Werte zu sprechen. Denn ob wir uns einsetzen und wie wir uns einsetzen, ist letztlich davon abhängig, welche Werte wir vertreten und ob wir die Möglichkeit haben, diese Werte auch in der praktischen täglichen Arbeit zu leben.Da ist es gut zu wissen, dass wir als Paritäterinnen und Paritäter offenbar eine Gruppe sind, denen Werte, also die ethisch-moralische Orientierung in der Arbeit sehr wichtig sind.

Das zeigt die enorme Resonanz, die der auf Anregung der Landesverbände im Frühjahr 2015  mit der sehr inspirierenden Werte-Startkonferenz in Potsdam begonnene Wertedialog ausgelöst hat. Nicht weniger als 8 Regionalkonferenzen gab es dann in der Folge und viele, viele andere Veranstaltungen und noch mehr interne Diskussionen. Werte sind nicht nur hier und heute Thema der Mitgliederversammlung eines Landesverbandes, sondern auch in weiteren Landesverbänden. 

Das Thema wurde angerissen durch eine zwar nicht repräsentative, aber mit mehr als 1500 Antwortenden doch sehr aussagekräftige Umfrage des Gesamtverbandes. Das zentrale Ergebnis: Ungefähr zwei Drittel der Mitmachenden arbeiten beim Paritätischen – haupt- oder ehrenamtlich – weil sie ganz bewusst in einer frei-gemeinnützigen Umwelt arbeiten wollen, also weder im for profit Bereich unter den Diktaten der Gewinnerzielung, noch beim Staat mit seiner Bindung an die bürokratischen Kriterien der Gleichförmigkeit und der  Massenverwaltungstauglichkeit.

Mehr als ¾ der Antwortenden möchten, dass in ihrer Arbeit Fachlichkeit, Effizienz und Wertvorstellungen gleichermaßen Beachtung finden. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, das ist ein großes Potenzial.

Aber: nur 6% erleben, dass diese drei Anforderungen in ihrer Arbeit gut ausbalanciert sind, für fast die Hälfte kommen vor allem die Wertevorstellungen zu kurz, gut 40% sehen Defizite bei der Realisierung der fachlichen Ansprüche.

Da haben wir also ein großes Problem mit den Werten, und deshalb gibt es diesen Dialog. Nach guter Paritätischer Tradition wollen wir in diesem Dialog die Probleme offen auf den Tisch legen und gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, dieses Spannung zu bearbeiten oder im günstigsten Fall aufzulösen.

Die Wertedebatte suchte und sucht Antworten auf drei aufeinander aufbauende Fragen:

     1. Was sind eigentlich unsere Werte? Warum treten wir für sie ein? Was ist das, was uns im Verband zusammenhält – das ist eine Art Selbstvergewisserung
     2. Was hilft uns und was hindert uns, gemäß unseren Werten zu arbeiten? – das ist die vertiefte Problemanalyse
     3. Was können wir tun, um diesen Konflikt besser, also mehr zu den Werten hin, aufzulösen? – das ist die Strategiefindung


Zum 1.: Was sind unsere Werte? Die Arbeit des Paritätischen ist „getragen von der Idee der Parität, das heißt der Gleichheit aller in ihrem Ansehen und in ihren Möglichkeiten, getragen von Prinzipien der Toleranz, Offenheit und Vielfalt.“ So steht es einfach und schön in den Grundsätzen unserer Verbandspolitik. Und das ist das Ergebnis von 90 Jahren Arbeit, in den mehr als 10.000 Mitgliedsorganisationen, den Regionalverbünden, den Fach-Foren, den Landesverbänden und dem Gesamtverband. Diese Grundsätze – das darf ich nach mehr als vier Jahren als Vorsitzender sagen – leben wir auch. Wir sind kein Wohlfahrtskonzern mit zentraler Steuerung und Befehlswegen von oben nach unten, sondern wir sind ein höchst lebendiger Organismus mit lebendiger Diskussion, und wir können auch Spannungen und Kontroversen aushalten.

Also: gleicher Respekt für jeden, gleiche Chancen für jeden. Das klingt harmlos, ist aber bei näherem Hinsehen und mit Sicht auf unsere Gesellschaft und ihre Entwicklung ein echtes – wertebasiertes – Kampfprogramm, eine solide Orientierung für einen sozialen Widerstandsverband, wie uns Heribert Prantl in der Auftaktkonferenz bezeichnete.

Dann die Arbeitsgrundsätze: Offenheit, d. h. kurz gesagt offen für neue Probleme und für neue Lösungen. Vielfalt, das ist das Resultat der Einsicht, dass es den einen besten Weg  meist nicht gibt. Und Toleranz: wir akzeptieren, dass andere anders sind, das respektieren wir und versuchen daraus zu lernen.

Schöne Ziele und Arbeitsgrundsätze also. Aber warum? Kurz gesagt, damit wir gute soziale Arbeit machen können. Auch dazu braucht es Werte: Denn aus guter Theorie und täglicher Praxis wissen wir z. B., dass Menschen nicht in Bedarfsaspekte zu zergliedern sind. Menschen können hingegen nur verstanden und richtig unterstützt werden, wenn wir sie ganzheitlich und ihren sozialen Bezügen und Beziehungen verstehen. Soziale Arbeit ist immer Beziehungsarbeit zwischen Individuen – das Wort ‚Individuum‘ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet: das Unteilbare. Die Arbeit mit und zwischen Individuen  eignet sich deshalb auch nicht umstandslos für  Standardisierung und  die Steuerung über outcome-Indikatoren. Die Qualität der Leistungen der sozialen Arbeit lässt sich nicht in Euro und Cent ausdrücken, sie hängt von den Methoden der sozialen Arbeit ab, Methoden können nicht losgelöst von unserem Menschenbild gewählt werden und jedem Menschenbild liegen Werte zugrunde. Die Reflektion über die Werte muss also  am Anfang, unterwegs und auch am Ende der Intervention stehen. Die Werte müssen auch bei Methoden und Qualitäten immer mitbedacht werden.

Freie Wohlfahrtspflege leistet ihre Arbeit dabei und deshalb mit einem ganz fundamentalen Wertehintergrund: ich glaube, dass es bei der Arbeit in der Pflege, mit geflüchteten Menschen, mit Migrantinnen, in der Jugend- und Gesundheitsarbeit, in der Bildung und mit behinderten Menschen, in der gesundheitlichen Selbsthilfe wie in der Gefährdeten- und Straffälligenhilfe, in Frauenhäusern wie Aids-Hilfen immer um ein Gemeinsames geht: Es geht immer um Ermöglichung von Teilhabe, es geht um Selbstbefähigung und die Verringerung sozial bedingter Ungleichheit, letztlich geht es um die Förderung von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. es geht um das ‚gute Zusammenleben aller Menschen‘. Das ‚gute Zusammenleben aller Menschen‘ in diesem Sinne – das mag zunächst etwas lyrisch klingen, aber es scheint mir das Besondere und auch das Gemeinsame unserer Arbeit mit all unseren Partner- und Zielgruppen und auf all unseren Feldern zu sein. Es bildet den gemeinsamen Wertehorizont, dessen wir uns immer wieder zu versichern haben.

Konkret: Auf der Ebene der MO’s geht es darum zu klären und immer wieder zu reflektieren, was  es bedeutet, wenn wir im Umgang mit Drogenabhängigen, Straffälligen, mehrfach behinderten Menschen oder mit dementiell veränderten Menschen auf Selbstbestimmung orientieren, wie wir Respekt und Chancen für Langzeitarbeitslose organisieren können, was es für die konkrete tägliche Arbeit ausmacht, wenn wir uns vom Prinzip der Fürsorge lösen und auf Unterstützung zur Selbstbestimmung orientieren. Das sind keineswegs triviale Fragen – und es gibt auch nicht immer eindeutige Antworten.
Auf der Ebene des Gesamtverbandes haben wir es da vielleicht sogar etwas einfacher: Wir wenden unseren Wertekanon und unsere Arbeitsprinzipien an, wenn es darum geht, konkrete Gesetzesvorhaben zu loben, weiter zu entwickeln, zu kritisieren bzw. durch Lobby in unserer Richtung weiter zu entwickeln.
Das lässt sich aktuell an unseren Stellungnahmen, Interventionen und Debattenbeiträgen zum BTHG, zum Integrationsgesetz, zur Reform der Versorgung chronisch psychisch kranker Menschen (PEPP), zum Pflegeberufsgesetz, zum PSG III, zum neuen Präventionsgesetz  oder etwa zur SGB VIII ablesen. Auch da müssen wir Kompromisse machen – immer pragmatisch die Alternative zwischen der Taube auf dem Dach und Spatz in der Hand vor Augen.
Denn eins darf auch nicht übersehen werden: Unsere Werte und Maximen sind zwar sehr nah dran an den Idealen, die intuitiv mit dem Gemeinwohl verknüpft sind: Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinschaftlichkeit. Aber diese Maxime ist eben nicht identisch mit dem Gemeinwohl. Denn eine allgemeinverbindliche Definition von Gemeinwohl kann es in pluralistischen Gesellschaften gar nicht geben. Vielmehr leben pluralistische und demokratische Gesellschaften immer davon, dass sich das Gemeinwohl im Prozess und in der Auseinandersetzung mit anderen Werten und Maximen herstellt. Dabei repräsentiert der Staat die Maximen innere und äußere Sicherheit, Ordnung und Rahmenbedingungen. Die gewerbliche Wirtschaft steht für Kosteneffizienz, Gewinn und Wachstum. Der dritte Akteur, die Bürgergesellschaft, deren Teil die Freie Wohlfahrtspflege ist, muss stets durch Praxis und Lobby bemüht sein, ihrer Maxime, dem ‚guten Zusammenleben aller Menschen‘ einen möglichst großen Einfluss zu verschaffen.

Deshalb ging und  geht es beim Wertedialog auch nicht um schöne Wörter, sondern es geht um die Frage, ob und wie wir unsere Werte in unserer Arbeit realisieren und wie wir dies nicht nur im Umgang mit unseren Partnern und Klienten, sondern auch der Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern noch verständlicher und attraktiver machen können.

Soviel also zunächst zur ersten Frage, der Selbstvergewisserung auf unsere Werte und Motive, die damit auch die Frage beinhaltet, was uns als Paritäterinnen und Paritäter eigentlich zusammenhält.

Damit komme ich zur zweiten Frage: Was hilft uns und was hindert uns daran, unsere Werte in unserer Arbeit zu leben? Woher die Diskrepanz zwischen den 77% die Fachlichkeit, Effizienz und Werte auf einen Nenner bringen wollen und den schmalen 6%, denen dies gelingt. Aus der Vielzahl der Gründe ragen in meiner Sicht vier heraus, sie sind schnell benannt, und ich bringe auch keine Beispiele, weil jede und jeder hier im Saal solche Beispiele aus der eigenen täglichen Praxis kennt. Die Gründe für die Diskrepanz liegen zunächet darin, dass wir eben nicht alleine entscheiden können, was das Gemeinwohl ist, sondern dass da der Staat mit seinen notwendig bürokratischen Maximen der Massenverwaltungstauglichkeit und der zu Dogmen erhobenen ‚schwarzen Null‘ und dem Verzicht auf eine angemessene Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen sowie die gewerbliche Wirtschaft mit ihren gewinnwirtschaftlichen Maximen eben ein Wörtchen mitzureden haben, ein ziemlich gewichtiges sogar. Und zwar meistens ein gewichtigeres als wir.

So kommt es eben – erstens –, dass sich das ganzheitliche Geschehen in der Pflege, in der Jugendarbeit, in der Arbeit mit Flüchtlingen, mit behinderten und alten Menschen in den Bewilligungsbescheiden oft als strikt segmentierte, in einzelne Kostenfaktoren zerlegte Beauftragung bzw. als Vorgaben für den Verwendungsnachweis wiederfindet. Und wir dann in der täglichen Praxis vor der im Grunde unlösbaren Aufgabe stehen, die Logik z. B. der Pflege und die Logik der Pflegevergütung unter einen Hut zu bringen. Dazu kommt – zweitens –, dass viele Daueraufgaben, die unsere MO’s an den dunkleren Stellen der Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit Fremdheit, Ausgrenzung und Diskriminierung leisten, eben nicht als Daueraufgaben gewährleistet werden, sondern jedes Jahr neu und neu benannt als Projekte beantragt werden müssen, die bekannte Projektitis also, mit all ihren schädlichen Folgen für Motivation und Qualität der Arbeit. Zum dritten nimmt die Bereitschaft des Staates im Zeichen von neoliberaler Wirtschaftspolitik und gewollter Austerität ab, Geld für Aufgaben auszugeben, die nicht unmittelbar das BIP und die Exportkraft steigern. Gewiss, Deutschland ist im internationalen Vergleich immer noch ein ziemlich gut ausgebauter Sozialstaat. Aber der Anteil der Sozialausgaben am BIP ist in den letzten Jahren von 31,5% auf 29,5% gefallen, klingt nicht viel; aber jedes Prozent sind eben rund 27 Milliarden Euro pro Jahr, und die fehlen dem Sozialen sehr, wie wir der Öffentlichkeit immer wieder vorrechnen. Der vierte Grund  für die Diskrepanz zwischen unserem Wollen und Können einerseits und dem Dürfen andererseits liegt, daran, dass infolge der ungebremsten Öffnung der sozialen Schere und erst recht aktuell mit dem Flüchtlingsandrang sowohl die Anzahl der Menschen mit Unterstützungsbedarf ansteigt als auch die von der Wohlfahrtspflege zu bearbeitenden Probleme immer schwieriger und komplexer werden.

Das also sind die Faktoren, die sowohl unsere Fachlichkeit als auch die Wertegebundenheit jeden Tag aufs Neue unter Stress setzen. Und die Zahlen aus der Umfrage und den regionalen Wertekonferenzen zeigen, dass Fachlichkeit und Werte dabei oft unterliegen. Zu unserem Wertedialog gehört es deshalb aus meiner Sicht auch, darüber offen zu sprechen, es nicht zu verdrängen, klein- oder gar wegzureden, sondern nüchtern zu analysieren, wie es in der Praxis immer wieder  zu Kompromissen kommt, die in Wirklichkeit allzu oft  Niederlagen sind; wie es aussieht und welche Folgen es für unsere Arbeit hat, wenn die sachfremde Logik der Bewilligung und der Wirkungsbestimmung über die Logik der ganzheitlichen sozialen Arbeit siegt. Nur auf Basis einer solchen Offenheit können wir uns mit Aussicht auf Erfolg der dritten Frage zuwenden, der Frage also, was wir tun können, um diese Spannungen und  Konflikt  besser, also mehr zu den Werten hin, aufzulösen? Das ist die Frage nach der Strategiefindung

Die offensive Akzentuierung der Werte, die wir vertreten, hat etliche Implikationen auf allen Ebenen. Zum Beispiel in der einzelnen Organisation. Da stellt sich die Frage, was eine wertebasierte Führung bedeutet. Wie sich Spannungen  zwischen den Ansprüchen auf Selbstbestimmung und Teilhabe zwischen den haupt- und ehrenamtlich Tätigen einerseits und den KlientInnen andererseits abbauen lassen, was überhaupt eine wertebasierter Aufbau- und Ablauf- Organisationen bedeutet. Ich will mich im Folgenden auf vier Implikationen beschränken, die diese Orientierung für Verbandpolitik bedeuten.

Die erste betrifft die Bestimmung Qualität und Wirkung unserer Leistungen. Natürlich wollen und müssen wir die Qualitäten unserer Arbeit ermitteln, verbessern und dokumentieren. Aber oft genug verkommt diese Form der Qualitätssicherung und Qualitätsdokumentation zu einer bloßen Alibiveranstaltung. Für Zuwendungsgeber und Finanziers  wird dann mit Qualitätsdokumentationen mit Daten und Zahlen gewissermaßen eine eigene Benutzeroberfläche gestaltet und abgeliefert, in der es ausschließlich um die formalen und quantifizierbaren Aspekte der Leistungen geht. Das Eigentliche – der Gewinn an Teilhabe und Lebensqualität für unsere Klientinnen und Klienten, die Beziehungsarbeit, die Vermehrung von Zusammenhalt und Vertrauen -  geht dabei unter. Wenn wir die Werte-Debatte offensiv führen wollen, müssen wir uns Gedanken darüber machen und Konzepte entwickeln, wie wir diese Aspekte auch als Qualitäten unserer Arbeit darstellen können. Wie misst man Teilhabe? Wie misst man Selbstbestimmung? Wie bestimmt man die Qualität von  Eingliederung? Nur wenn es uns gelingt, diese Aspekte auch als unverzichtbare und von niemandem sonst zu erbringende Qualitäten unserer Arbeit darzustellen und öffentlich zu machen, können wir, kann der Paritätische, kann die Freie Wohlfahrtspflege in der Wertediskussion wieder in die Offensive kommen.
Die zweite Implikation betrifft das Thema Innovation. Da wird uns ja vor allem von marktreligiöser Seite, also von Menschen, die ganz fest davon ausgehen, dass der Markt sowieso alles besser regelt als Staat und Zivilgesellschaft, immer mal wieder vorgeworfen, wir seien innovationsschwach; als gemeinwirtschaftliche Organisationen seien wir der dynamischen Unternehmerpersönlichkeit von vornherein unterlegen. Empirisch ist das meist sehr einfach zu widerlegen. Ein Blick auf die Realität  zeigt: Innovationen der Sozialen Arbeit entstanden und entstehen vor allem in unseren Organisationen, und sie lassen sich nur mit und in den Wohlfahrtsverbänden in die Fläche tragen. Für jede neue Anregung und Initiative, Leistungen stärker an den Bedürfnissen und Problemen der  Menschen zu orientieren, sind wir offen; wir suchen solche Anregungen und wir fördern sie auch. Deshalb müssen wir uns mit unseren Leistungen nicht verstecken. Gerade im Umgang mit der sehr großen Zahl an geflüchteten Menschen hat die Freie Wohlfahrtspflege sehr schnell und sehr konkret gezeigt, was an Innovationskraft in ihr steckt: von mobilen Kitas in der Notaufnahme bis hin zu neuen Formen der Netzwerkbildung, von unzählige Patenschaften und Programme der Begleitung von Geflüchteten in die soziale und kulturelle Umgebung, in Familien, in die eigene Wohnung, die deutsche Sprache, in die Arbeitswelt …
Das liegt vor allem auch daran, dass wir über besonders zahlreiche, eigene Quellen der Innovation verfügen. Diese Quellen speisen sich aus der praktischen Arbeit unserer Mitgliedsorganisationen vor Ort und damit letztlich aus unseren Werten und der Wertegebundenheit unserer Arbeit. Auch hier können wir sicherlich in der Praxis den hürdenreichen Weg vom sozialen Problem zur sozialen Innovation noch sicherer und noch schneller machen, also unsere Potenziale frei, sozial, innovativ noch besser nutzen. Und wir können diese unsere – wertebasierte! – Innovationsstärke  auch in der Öffentlichkeit noch deutlicher machen, als wir es heute tun.

Die dritte Implikation betrifft das Wächteramt des Verbandes. Ich erwähnte es bereits: Unsere  mehr als 10.000 Mitgliedorganisationen bilden das feinste und am stärksten verzweigte Nervensystem zu den Bruchstellen und dunklen Ecken unserer Gesellschaft. Und unser Wertekompass sagt uns, dass Soziale Arbeit mehr sein muss als ein Notpflaster und mehr als unmittelbare Nothilfe, auch wenn sie bei Geflüchteten heute vielfach noch im Vordergrund stehen. Soziale Arbeit muss auch öffentlich benennen, dass ein großer Teil der bearbeiteten Probleme ihre Verursachung in der kontinuierlich weiter werdenden Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich hat. Soziale Arbeit ist auch befugt und meines Erachtens auch verpflichtet zu benennen, wie diese Schere wirkt und durch welche Maßnahmen dieses Dilemma zumindest verkleinert werden könnte. Deshalb veröffentlicht der Paritätische seit nunmehr 17 Jahren regelmäßig Armutsberichte und nimmt ebenso regelmäßig zu neuen Ausprägungen und Folgen der wachsenden Ungleichheit und der ihr folgenden sozial bedingten Ungleichheit Stellung. Manchmal und manchen und manche mag dies nerven, aber es ist notwendig, um zu zeigen, dass unser Verband es ernst meint mit den Werten Respekt, Chancengleichheit und Teilhabe – als Voraussetzung und Teil des ‚guten Zusammenlebens aller Menschen.

Die vierte und letzte Implikation einer Strategie, mit der wir in der Frage der Werte unserer Arbeit wieder in die Offensive kommen können, betrifft Bündnisse. Zusammen mit den anderen fünf Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege bilden wir als Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ein Bündnis der Wohlfahrt. Das ist gut und wichtig, aber öffentlich wenig sichtbar. Zusammen mit den Vertretern der Gebietskörperschaften und insbesondere den Kommunen bildet die freie Wohlfahrtspflege darüber hinaus den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge – auch dies ein unverzichtbares aber ebenfalls wenig öffentlichkeitswirksames Scharnier. Wenn wir darüber hinaus mit breiter Wirkung für unsere Werte und gegen die rigorose Ökonomisierung aller Lebensvollzüge wirksam werden wollen, brauchen wir mehr und neue Bündnispartner und wir müssen auch  auf der Straße und in den Medien sichtbar sein. Das ist für Wohlfahrtsverbände neu, denn sie sind von Natur aus sanftmütig und ausgleichend, man ist gewohnt, dass sie möglichst geräuschlos und im Hintergrund soziale Probleme bearbeiten. Aber veränderte Lagen erfordern eben auch neue Strategien. Deshalb war unsere große Kampagne zur Umverteilung in den Jahren 2012/2013 gut und richtig. Auch die derzeit laufende Kampagne für eine sozial verträgliche Energiewende u.a. zusammen mit dem Deutschen Mieterbund, dem BUND und den Verbraucherzentralen trägt unsere Werte in die Öffentlichkeit. Das gleiche gilt erst Recht auch für das zivilgesellschaftliche Bündnis u. a. mit dem Kulturrat, dem BUND, dem NABU, der Akademie der Künste, dem DGB, der ökologischen Landwirtschaft und vielen anderen, mit dem wir darauf hinarbeiten, dass die Basis unserer gemeinnützigen Arbeit in der Daseinsvorsorge nicht durch internationale Handelsabkommen wie derzeit vor allem durch TTIP und CETA untergraben wird. Deshalb werden hoffentlich auch vielen Paritäterinnen und Paritäter morgen, also am Sonntag dem 17. 9. 16 an einer der sieben gleichzeitig stattfindenden großen Demonstrationen gegen TTIP und CETA teilnehmen. Von Magdeburg aus sind die nächstliegenden Orte Berlin und Leipzig, der Beginn ist um 12h. Wir wollen den riesigen und offenbar auch politisch sehr wirkungsvollen Erfolg der Demonstration von ca. 250.000 Menschen in Berlin am 10. Oktober 2015 wiederholen und wenn es geht überbieten.

Auch im Umgang mit Fremdenfeindlichkeit und damit bei der Bewältigung der Integration der vielen gekommenen und der noch kommenden Geflüchteten suchen und schaffen wir neue Bündnisse: Angesichts der aktuellen und absehbaren Herausforderungen spricht sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in dem Bündnis „Allianz für Weltoffenheit“ gegen Intoleranz sowie Hass und für demokratische Grundwerte sowie gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Zu der Allianz gehören neben der BAGFW der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die Deutsche Bischofskonferenz, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Deutsche Kulturrat, der Koordinationsrat der Muslime, der Deutsche Naturschutzring und der Olympische Sportbund – das breiteste Bündnis der Zivilgesellschaft, das es je gab.

Unsere Werte erlauben und gebieten es auch, klar und mit Kante gegen Fremdenfeindlichkeit Stellung zu nehmen, das schließt auch klare Positionen gegen diesbezüglich aktive Parteien und Organisationen ein. Denn der Paritätische ist zwar parteipolitisch unabhängig – anders könnten wir auch gar nicht überleben – aber wir sind keineswegs neutral. Wer Werte hat, ist nicht neutral. Das bekommen alle Parteien zu spüren. Wenn wir zum Beispiel auf die AfD, ihr Programm und ihre Anhängerschaft schauen – und da haben Sie hier in Sachsen-Anhalt ja besonders ausgeprägte Gründe – dann sehen wir, dass wir allen Grund haben, dagegen klar Stellung zu beziehen. Denn AfD, NPD, Identitäre Bewegung und wie sie alle heißen, haben ja eines gemeinsam: sie wollen ganzen Bevölkerungsgruppen den Respekt verweigern und ihnen eben keine Chancengleichheit einräumen. Sie stehen damit gegen unsere Grundwerte. Sie sind also für Exklusion – die Freie Wohlfahrtspflege aber steht für Inklusion. Exklusion und Inklusion sind aber nun einmal Gegensätze. Da hilft es freilich nicht, die Wähler für dumm zu erklären oder die Parteien und Organisationen zu ignorieren. Das führt nicht weiter. Wir müssen durch unsere Praxis und auch in der Öffentlichkeit deutlich machen, dass diese Organisationen keine Lösungen für irgendein wichtiges Problem haben. Dass sie mit ihren sozial- und wirtschaftspolitischen Programmen die Kluft zwischen reich und arm, zwischen oben und unten vergrößern wollen, Was die AfD im Hinblick auf Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer, Familienpolitik, Bildungspolitik vorschlägt, zeigt klar und deutlich: Dies ist keine Partei, die die sozial bedingte Ungleichheit von Lebens- und Entwicklungschancen vermindern will. Und das zeigt , dass sie eben keine Alternative für Deutschland, sondern die Alternative zu einem weltoffenen, entwicklungsfähigen und solidarischen Deutschland ist. Dass sie all denen, die in der Angst und Sorge vor dem sozialen Abstieg leben, die sich von der staatlichen Politik entfremdet fühlen, die kulturell desorientiert sind, nichts zu bieten hat, sondern dass sie diese Ängste lediglich instrumentalisiert, um sich Anhänger und Stimmen für ein anderes, rückwärts gewandtes Deutschland zu erschwindeln.  Diese Auseinandersetzung können wir nicht vermeiden, wir müssen sie – gemeinsam mit vielen anderen Organisationen – offensiv und argumentativ führen.

Die Basis dieser Bündnisse ist unsere Wertegebundenheit, unsere Bündnispartner sind Menschengruppen, soziale Bewegungen, Organisationen und Institutionen, die zumindest einen Teil ihrer Existenz nicht nach den Regeln und Prioritäten des Marktes verbringen wollen oder können und die zugleich sehen, dass es eine Menge Probleme gibt, die  weder mit den Strategien des Marktes noch mit dem Handlungsrepertoire des Staates  gut zu lösen sind.

Liebe Paritäterinnen und Paritäter,

vor 25 Jahren hieß es, dass wertorientierte gemeinnützige Soziale Arbeit keine Zukunft habe und dass die Wohlfahrtsverbände ein Auslaufmodell seien. Solche Annahmen sind grandios widerlegt. Lebendiges Engagement vor Ort, Ineinandergreifen von ehren- und hauptamtlicher Arbeit, der Einsatz für mehr Chancengleichheit und gleichen Respekt für jeden Menschen, für das ‚gute Zusammenleben aller Menschen‘ als Kernbestand unserer Werte – wenn wir uns auf diese Stärken besinnen, dann ist mir auch um die Zukunft des Paritätischen nicht bange. Und wenn ich sehe, wie die Zivilgesellschaft und die organisierte Wohlfahrtspflege die aktuelle Mega-Herausforderung der Flüchtlingsbewegung angenommen haben und bearbeiten, dann festigt das meine Zuversicht, dass wir auch diese Herausforderung bewältigen werden können, und zwar im Sinne des guten Zusammenlebens aller Menschen, aller Menschen!

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine produktive Mitgliederversammlung!

 

Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, war von 1988 bis 2012 Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und lehrt Gesundheitspolitik u.a. an der Berlin School of Public Health in der Charité Berlin. Seine Themen sind sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen, Präventionspolitik sowie Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Er betreibt seit den 70er Jahren Gesundheitsforschung und Politikberatung und ist u.a. Mitglied des Nationalen Aids-Beirates (NAB) (seit 1995) und Vorsitzender der Landesvereinigung Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. (seit 2006). Er war von 1999 – 2009 Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR – G), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2001 - 2012), Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) (von 2010 – 2015), des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) (2006 – 2008) etc. 2012 wurde er zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband – gewählt und 2016 wiedergewählt, seit 2015 ist er außerdem ehrenamtlicher Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW).

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