Paritätischer Armutsbericht 2019 zeigt ein viergeteiltes Deutschland

12.12.2019

Der Verband untersucht in der Studie die Armutsentwicklung auf Länder- und Regionalebene

Das Erfreuliche zuerst: Die Armut in Deutschland ging von 2017 auf 2018 zurück. Es ist mit minus 0,3 Prozentpunkten zwar ein nur leichter Rückgang, auch bleibt die Armut mit 15,5 Prozent in Deutschland auf hohem Niveau, doch ist es zumindest der erste Rückgang seit 2014 und der erste Rückgang der Quote um mehr als minimale 0,1 Prozentpunkte seit 2006. Erstmalig ging auch die Armutsquote unter Menschen mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit, die seit 2012 stark angestiegen war, deutlich und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sogar überdurchschnittlich zurück. Das Gleiche gilt für Menschen mit Migrationshintergrund generell. Die seit einigen Jahren zu beobachtende Scherenentwicklung, wonach die Armut unter deutschen Staatsbürger*innen und Einwohner*innen ohne Migrationshintergrund sank, während sie bei Ausländer*innen und Menschen mit Migrationshintergrund anstieg, ist in 2018 gestoppt.

Armut ist kein Problem von Migrant*innen

Entsprechend funktioniert auch das dazugehörige Framing nicht mehr, wonach Armut in Deutschland vor allem ein Problem von Migrant*innen sei. Gleichwohl bleiben Menschen mit Migrationshintergrund, genauso wie Arbeitslose, Alleinerziehende, Kinderreiche oder Menschen mit nur unzureichenden Bildungsabschlüssen die Hauptrisikogruppen der Armut mit Quoten zwischen 30 und 57 Prozent. Der allgemeine Rückgang der Armutsquote 2018 ist statistisch vor allem den guten Jahresergebnissen in den bevölkerungsreichen Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern zu verdanken. Insgesamt zeigen jedoch noch sieben weitere Bundesländer 2018 eine positive Entwicklung. Auch wenn sich die Verhältnisse im Zehnjahresvergleich etwas angenähert haben, stellt sich Deutschland als zwischen einzelnen Bundesländern und Regionen nachwievor tief zerklüftetes Land dar. Der Graben verläuft 30 Jahre nach dem Mauerfall jedoch längst nicht mehr einfach zwischen Ost und West. Deutschland ist heute hinsichtlich der Verteilung von Armut viergeteilt. Es ist der wohlhabende Süden mit einer Armutsquote von lediglich 11,8 Prozent. Es ist der Osten Deutschlands mit 17,5 Prozent. Es ist Nordrhein-Westfalen mit seinen 18 Millionen Einwohnern und einer Armutsquote von 18,1 Prozent und es sind schließlich die weiteren Regionen Westdeutschlands mit einer gemeinsamen Armutsquote von 15,9 Prozent. Nordrhein-Westfalen hat nicht nur die höchste Armutsquote unter den großen Flächenregionen, sondern zeigt im Zehnjahresvergleich auch die mit Abstand schlechteste Entwicklung. Geschuldet ist dies wesentlich der außerordentlichen Armutsentwicklung im Ruhrgebiet, dem mit 5,8 Millionen Einwohner*innen größten Ballungsraum Deutschlands mit einer Armutsquote von 21,1 Prozent.

Armut verschwindet nicht einfach bei guter oder sogar sehr guter wirtschaftlicher Entwicklung.

Auch darauf weist dieser Bericht hin. Wirtschafts- und Armutsentwicklung haben sich vielmehr voneinander abgekoppelt: Über einen längeren Zeitraum hat der Reichtum zugenommen und die Zahl der Armen ist immer größer geworden. Dieses liegt – um an eine aktuelle Diskussion anzuknüpfen – mitnichten an den seit 2015 zu uns geflohenen Menschen. Auch ohne Geflüchtete wäre die Armutsquote in den letzten Jahren der sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung nur wenig gesunken. Stattdessen muss ein armutspolitisches Versagen konstatiert werden: Es wäre Aufgabe dieses Sozialstaates dafür Sorge zu tragen, dass bei zunehmendem Wohlstand alle mitgenommen werden, dass in der Regel ein Mindestmaß an Gleichheit von Einkommen, Ressourcen und Möglichkeiten herrscht, wobei in diesem Bericht, EU-Standards folgend, 60 Prozent des mittleren Einkommens das finanzielle Mindestmaß als Voraussetzung für Teilhabe markieren. Wenn darüber hinaus die Armut bereits seit 2006 einen Aufwärtstrend zeigt, obwohl es an politischen Absichtserklärungen zu ihrer Bekämpfung nicht fehlt und tatsächlich auch eine ganze Vielzahl kleinerer Reformen auf den Weg gebracht wurden – vom Wohngeld über das BAFöG, dem Kinderzuschlag bis zum sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket – so ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass es mit Klein-Klein und reformerischem Stückwerk offensichtlich nicht getan ist, will man Armut nicht lediglich verwalten, sondern tatsächlich abschaffen oder doch zumindest reduzieren. Wo Realpolitik vor allem inkonsequente Politik ist, kann sich armutspolitisch kein nachhaltiger Erfolg einstellen. Ein Masterplan zur Armutsbeseitigung müsste zugleich die Politikfelder Arbeit, Wohnen, Alterssicherung, Pflege, Gesundheit, Familie, Bildung und Teilhabe ins Auge fassen. Er wäre sehr komplex und facettenreich und benötigte einen langen politischen Atem.

In Anknüpfung an aktuelle sozialpolitische Diskussionen sehen wir angesichts der Befunde dieses Berichtes Priorität in folgendem Sofortprogramm:

  • sofortige Erhöhung der Regelsätze von derzeit 424 auf 582 Euro und Einsetzung einer unabhängigen Kommission zur Neubestimmung des Existenzminimums – insbesondere für Kinder;
  • Einführung von Freibeträgen auf Alterseinkünfte in der Altersgrundsicherung und Einführung einer Mindestrente für langjährig Versicherte;
  • Einführung einer bedarfsdeckenden und einkommensorientierten Kindergrundsicherung und Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Teilhabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz;
  • Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 13 Euro;
  • sanktionsfreier Umbau der Hartz IV-Leistungen zu einem echten Unterstützungssystem inklusive eines sozialen Arbeitsmarktes und sozialpädagogischer Hilfen;
  • Umbau der Pflegeversicherung durch Abschaffung oder deutliche Reduzierung der Eigenanteile der Pflegebedürftigen;
  • kostenfreie bedarfsdeckende gesundheitliche Versorgung auch für Menschen mit niedrigem Einkommen


Eine detaillierte Suchfunktion nach Postleitzahlen für Sachsen-Anhalt finden Sie unter:  Armutsbericht regional

Regionale Armutsquoten

Die Altmark gehört zu den Regionen Deutschlands, in denen ein besonders hoher Anteil von Menschen von Armut betroffen ist. Von den knapp 200.000 Einwohner*innen der Altmark lebte 2018 mehr als jede*r fünfte unterhalb der Armutsschwelle. Damit ist die Altmark nicht nur die Region mit der aktuell zweithöchsten Armutsquote in Deutschland.

Sie zählt auch zu den Regionen, die sich im Zehnjahresvergleich besonders schlecht entwickelt haben. Während die Altmark 2008 mit 18,4 Prozent noch unter dem ostdeutschen Durchschnitt lag und in Sachsen- Anhalt die Region mit der niedrigsten Armutsquote war, bildet die Region heute mit einer Armutsquote von 22,9 Prozent das Schlusslicht des Bundeslandes. Die Entwicklung der Armutsquote in den Jahren 2010 bis 2013 sticht besonders hervor. Die Armutsquote steigerte sich in diesen Jahren um 66 Prozent und koppelte sich von der Entwicklung der Armut in den übrigen Regionen Sachsen-Anhalts ab.

Zwar liegen auch die Armutsquoten der anderen Regionen in Sachsen-Anhalt deutlich über dem Bundesdurchschnitt, und auch über dem ostdeutschen Durchschnitt. Im Zehnjahresvergleich verzeichnen sie jedoch einen deutlich positiven Trend mit Rückgängen von 13 Prozent im Raum Halle/Saale und im Raum Magdeburg und 23 Prozent in Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg.

Pressekontakt: Gwendolyn Stilling Tel.: 030 24636305 E-Mail: pr(at)paritaet.org