Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Krankenversicherung in Sachsen-Anhalt sicherstellen

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11.05.2021

Offener Brief an die Kandidierenden zur Landtagswahl Sachsen-Anhalt 2021

Vor dem Hintergrund der aktuellen Covid19-Pandemie zeigt sich die Notwendigkeit flächendeckender medizinischer Versorgung besonders deutlich. Dennoch gibt es in Sachsen-Anhalt ganze Personengruppen, die eine solche nur eingeschränkt oder gar nicht wahrnehmen können. Konservativen Schätzungen nach ist im Landesgebiet von zwischen 1.700-2.200 Personen ohne Krankenversicherungsschutz auszugehen. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen.

Dem entgegenzuwirken ist nicht nur aus ethischen, sondern auch aus Gründen der öffentlichen Gesundheit (public health) geboten. Die Fallkonstellationen von Personen ohne Versicherungsschutz sind denkbar divers. Besonders Selbstständige sind hiervon betroffen. Kommen sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten, können sie oft die Beiträge zur privaten Krankenversicherung nicht mehr zahlen. Sie scheuen den Gang zum Jobcenter und die drohenden Beitragsschulden führen häufig dazu, dass der fehlende Krankenversicherungsschutz verdrängt wird, bis ein gesundheitlicher Ernstfall eintritt. Unter Berücksichtigung der sich abzeichnenden Folgen der Pandemie für die Privatwirtschaft, ist hier mit einem Anstieg der Fallzahlen zu rechnen. Aber auch ehemals Inhaftierte, Wohnungslose, Auslandsrückkehrende oder Menschen, die aufgrund des Todes ihres/ ihrer Partner:in aus der Familienversicherung ausscheiden, haben Probleme, zurück in die Regelversorgung zu finden. Daneben gibt es Menschen aus dem europäischen Ausland, die in ihrem Heimatland nicht versichert sind und hier keiner sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen können. Nicht selten arbeiten sie hier im Niedriglohnsektor unter prekären Beschäftigungsbedingungen. Sie selbst und Angehörige haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen und verfügen oft nicht über die Mittel, die Behandlungskosten selbst zu tragen. Von dieser Problematik sind in Sachsen-Anhalt ganze Familien betroffen. Auch Menschen aus dem Ausland, die über eine Reisekrankenversicherung verfügen, geraten immer wieder in Situationen, in denen notwendige Behandlungen nicht übernommen werden, eine Rückkehr ins Heimatland aber nicht möglich ist. Solche Fälle sind insbesondere während der Schließung der Ländergrenzen im Rahmen der Pandemiebekämpfung aufgetreten. Nicht zuletzt gibt es in Deutschland Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel. Diese haben theoretisch zwar Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, können diese aber de facto nicht in Anspruch nehmen, weil sie davon ausgehen müssen, dass die Sozialämter ihre Daten an die Ausländerbehörden übermitteln und sie sich somit in die Gefahr begeben, abgeschoben zu werden.

Das Ergebnis ist für all diese Menschen ähnlich: Sie vermeiden den Gang zum Arzt/ zur Ärzt:in. Das führt regelhaft dazu, dass Menschen nur in akuten Notfällen Kontakt zum Gesundheitssystem aufnehmen. Unmittelbare Folge ist, dass Krankheiten in einem sehr späten Stadium behandelt werden. Im Frühstadium gut behandelbare Krankheiten chronifizieren, Prognosen verschlechtern sich massiv. Aktuell geht damit ggf. auch ein erhöhtes Infektionsrisiko für Betroffene und Personen in deren direkter Umgebung einher. Was für die einzelnen Menschen enorme physische und psychische Belastungen bedeutet, schlägt sich im Gesundheitssystem in steigenden Kosten nieder. So zeigen Analysen von Abrechnungsdaten, dass ein schlechterer Zugang zu medizinischer Versorgung und Einschränkungen in den vom jeweiligen Kostenträger übernommenen Leistungen nicht etwa zu Kosteneinsparungen führen, sondern im Gegenteil die Kosten steigern. Somit ist es neben ethischen Erwägungen und Gründen des Bevölkerungsschutzes auch volkswirtschaftlich sinnvoll, den Betroffenen eine frühzeitige Behandlung und einen Zugang zu präventiven Leistungen zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass Krankenhäuser und andere Leistungserbringer die Behandlung solcher unversicherter Personen oft nicht abrechnen können, da kein Kostenträger ermittelbar ist. Sie laufen daher Gefahr, auf Kosten bereits erbrachter Leistungen sitzen zu bleiben. Nicht selten werden Patient:innen ohne Krankenversicherung deshalb auch von Institutionen des Gesundheitssystems abgewiesen oder nur notdürftig behandelt.

Um unversicherten Menschen ihr Recht auf Gesundheit zu gewähren und Sicherheit für medizinisch Berufstätige zu schaffen, wurden bundesweit in mehreren Ländern und Kommunen bereits Versorgungskonzepte für diese Zielgruppe etabliert. Die Möglichkeit der Übernahme von medizinischen Behandlungskosten verbunden mit einer Beratung zur Wiedereingliederung in die Regelversorgung wird bspw. bereits vom Anonymen Krankenschein Thüringen e.V., dem Clearingstelle und anonymer Behandlungsschein Leipzig e.V., der Clearingstelle Hamburg und von der Berliner Stadtmission mit der Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen umgesetzt. Ein ähnliches Konzept liegt auch für das Land Sachsen-Anhalt vor.

Wir appellieren eindringlich an Sie, Lösungen für die betroffenen Menschen in Sachsen-Anhalt zu finden und sich zusätzlich für eine bundeseinheitliche Regelung der Problematik einzusetzen. Die Covid19-Pandemie führt uns eindrücklich vor Augen, dass es in Fragen der öffentlichen Gesundheit auf die Versorgungslage für jede und jeden ankommt. An Ihnen ist die verantwortungsvolle Aufgabe, durch die Gestaltung der nötigen Rahmenbedingungen dafür Sorge zu tragen, dass die Grundrechte auf Schutz der Gesundheit sowie der körperlichen Unversehrtheit für alle Menschen in Sachsen-Anhalt umgesetzt werden können.

Medinetz Halle | Medinetz Magdeburg
https://unversichert.medinetz-halle.org

Mitzeichnende:

  • LIGA der Freien Wohlfahrtspflege im Land Sachsen-Anhalt – Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege
  • Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt
  • Landesnetzwerk Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA)
  • Ärztekammer Sachsen-Anhalt
  • Marburger Bund – Landesverband Sachsen-Anhalt
  • Dachverband der Migrantinnenorganisationen (DaMigra)
  • Krankenhausgesellschaft Sachsen-Anhalt
  • Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt
  • Psychosoziales Zentrum für Migrantinnen und Migranten in Sachsen-Anhalt
  • Deutscher Verband für Physiotherapie (ZVK) – Landesverband Sachsen-Anhalt
  • Apothekerkammer Sachen-Anhalt