Tagungsbericht "mitWIRkung – teilnehmen, teilhaben, teil sein"

12.10.2011

Unter dem Tagungstitel – mitWirkung, teilnehmen, teilhaben, teil sein – Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe – Herausforderung! Chance? hat das Jugendwerk Rolandmühle GmbH in Burg und der PARITÄTISCHE Landesverband Sachsen-Anhalt e.V. eine Tagung zu Beteiligungsformen organisiert.

Unter dem Tagungstitel – mitWirkung, teilnehmen, teilhaben, teil sein – Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe – Herausforderung! Chance? hat das Jugendwerk Rolandmühle GmbH in Burg und der PARITÄTISCHE Landesverband Sachsen-Anhalt e.V. eine Tagung zu Beteiligungsformen  organisiert. Mit fast 120 Teilnehmenden aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe, vorwiegend dem Bereich Hilfen zur Erziehung, war ein großes Interesse bekundet worden. Die Aktualität des Themas ist in Verbindung mit den Berichterstattungen „Runder Tisch Heimerziehung“ und „Runder Tisch Sexueller Mißbrauch in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe“ sowie den sich abzeichnenden Entwicklungen des Bundeskinderschutzgesetzes zu sehen.

Die Veranstalter haben den Titel der Tagung „mitWIRkung“ methodisch aufgegriffen und alle Teilnehmenden zu Beginn in eine Aktivität eingebunden, die mit diversen Trommeln, Musikinstrumenten, Sprachgesang und weiteren Aktivitäten versehen war, die mit Wirkung Teilnahme, Teilhabe und Teil sein dokumentierten.

Inhaltlich wurde die Tagung von zwei Referaten eröffnet, die auf den ersten Blick nicht eine Verbindung zueinander aufweisen. Prof. Dr. Günther Opp von der Matin-Luther-Universität Halle/ Wittenberg referierte zum Thema „Praktische Umsetzung der neuesten Erkenntnisse aus der Resilienzforschung in Verbindung mit Positiver Peer Culture“. Die Erfahrungen aus der Resilienzforschung zeigen, dass Menschen, die in prekären Lebenslagen aufgewachsen sind und positive biografische Entwicklungen in ihren weiteren Lebensweg genommen haben, wiederum auf Menschen trafen, die es ihnen ermöglicht haben dazugehörig sein zu können, sich einbringen zu können und so Erfahrungsräume zu ermöglichen, die unter dem Begriff „Selbstwirksamkeit“ definiert werden. Die psycho-emotionale Ebene, sich dazugehörig fühlen und angenommen zu sein, bestimmte im Wesentlichen die positiven Entwicklungen der jungen Menschen, die in belasteten Familien und Lebensumfeldern aufwuchsen und eher schlechte Prognosen bezüglich gesellschaftlicher Teilhabe aufwiesen. Diese Erkenntnis verbindet Prof. Dr. Opp  mit dem Ansatz der „Positiven Peer Culture“. Pädagogische Fachkräfte bieten einen Rahmen, in dem junge Menschen selbständig Probleme bewerten und Lösungen gemeinsam erarbeiten. Die pädagogische Fachkraft unterstützt den Prozess und achtet auf den respektvollen und würdevollen Umgang der Teilnehmenden. Die Lösungsvorschläge und die damit verbundenen Erfahrungen werden in der Gruppe ausgetauscht. Dieses reflexive Moment ist ein wesentlicher Bestandteil von erfahrbarer Partizipation. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit - emotionale „Dazugehörigkeit“ und ein „Angenommen sein“ wird mit diesem Ansatz verknüpft.

Prof. Dr. Peter Schruth von der Hochschule Magdeburg-Stendal, der in der Kommission „Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ mitgewirkt hat und Mitbegründer des Berliner Rechtshilfefonds für Jugendliche ist, referierte zum Thema: Mitwirkungs- und Beteiligungsrechte von jungen Menschen – Rechtliche Aspekte – Anforderungen für die Praxis. Prof. Dr. Schruth stellte sehr deutlich den Bezug zur aktuellen Praxis und Bewilligung von Hilfen zur Erziehung in von Sparzwängen befindlichen Kommunen und Landkreisen her. Er hob hervor, dass die Mitwirkung im Kinder- und Jugendhilferecht nicht, wie oftmals in der Praxis vorzufinden ist, die Einstellung von Hilfen bedeutet, weil die Beteiligten nicht „mitwirken“. Hierzu bedarf es einer Klarstellung des Begriffs im Kinder- und Jugendhilferecht: „Wo junge Menschen noch nicht ausreichend mitwirken können (obwohl sie wollen), ist es Aufgabe der Jugendhilfe, die Bereitschaft, die Chancen auf Beteiligung mit den jungen Menschen zusammen zu verbessern“, so Prof. Dr. Schruth, der dies als Motivationsaufgabe der Jugendhilfe versteht und nicht als Ausschlusskriterium und Androhung von Exklusion von jungen Menschen und Familien. Beteiligung von jungen Menschen und Familien sind im Kinder- und Jugendhilferecht an mehreren Stellen explizit ausgewiesen (§ 5 Wunsch- und Wahlrecht, § 8 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, § 36 Mitwirkung, Hilfeplan usw.) und müssen zur Anwendung kommen. Rechte auf Mitwirkung zu fixieren ist das eine, diese Rechte auch zu bekommen, das andere. Unter den gegebenen praktischen Erfahrungen, die in der Kinder- und Jugendhilfe bundesweit anzutreffen sind, müssen die partizipativen Errungenschaften des Kinder- und Jugendhilferechts als Gütekriterium hervorgehoben werden. Partizipation ist Teil des Hilfeprozesses selbst und erlaubt, ja fordert sogar Widerspruch, auch wenn dies im Alltag sowohl in der Praxis von Jugendämtern als auch bei Leistungsanbietern der Kinder- und Jugendhilfe vielleicht ausgeblendet wird.

Die Entwicklung einer Kultur des Widersprechens, des Austragens von Widersprüchen, muss Bestandteil in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe sowohl bei freien als auch bei öffentlichen Trägern der Jugendhilfe sein und bleiben. Prof. Dr. Schruth forderte die Einführung von Formen des Beschwerdemanagements in der Jugendhilfe und explizit konzeptionelle Entwicklungen zu Beschwerde- und Vermittlungsstellen in den ambulanten und stationären Erziehungshilfen. Wenn die Dimensionen von Beteiligungsrechten für Kinder, Jugendliche und der Familien nicht nur auf dem Papier, sondern auch in den Verfahren zur Hilfegewährung und in den praktischen Arbeitsfeldern der Kinder-und Jugendhilfe  ihre Anwendung finden, werden andere Leistungen und Fachlichkeiten bei den professionellen Akteuren entwickelt.

In danach angebotenen Workshops wurde das Thema „Mitwirkung – Partizipation“ aus verschiedenen Facetten aufgegriffen. Dem Erfahrungsaustausch wurde breiter Raum gegeben. Der Verein LOTSE – Beschwerde- und Vermittlungsstelle in Halle, hat seine Arbeit und die damit verbundenen Grundhaltungen sowie Qualitätskriterien in der Begleitung und Beratung von  Kindern, Jugendlichen und Familien dargestellt. Uwe Thiele machte an Hand der „Gelben Karte“, die als Signal für Widerspruch bzw. Beschwerde steht, deutlich, dass es sowohl um eine Interessenvertretung von jungen Menschen und Familien bei Jugendämtern geht als auch um rechtliche Aufklärung und Akzeptanz von unterschiedlichen Sichtweisen zu Sachverhalten. Die in den Beratungen und Begleitungen anzutreffenden emotionalen Befindlichkeiten sowohl bei Jugendämtern als auch bei jungen Menschen und deren Familien lassen sich häufig durch dritte Beteiligte abschwächen und leiten gelingende Kommunikationsprozesse ein, die einen andere Form der  Hilfegewährung und des weiteren Umgangs ermöglichen.

Jugendliche und junge Erwachsene haben einen eigenen Workshop gestaltet, in dem sie ausarbeiteten welche Beteiligungsformen und Grenzen sie zum Beispiel in Schulen erleben. Interessant war, dass die Entwicklungen in den stationären Einrichtungen, die Beteiligungsformen als Bestandteil pädagogischen Handelns pflegen, Widerspruchskulturen in Schulen erzeugen. Die jungen Menschen erleben und können die vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Beteiligungsformen unterscheiden und erfahren, wo die jeweiligen Grenzen liegen. Deutlich wurde:  wenn Beteiligungsformen als emotionale und erfahrbare Momente wahrgenommen werden, werden sie auch häufiger in anderen Lebensbereichen gewünscht und eingefordert.

Die Erfahrungen mit Beteiligungsformen in der Heimerziehung – Anforderungen in der Praxis von Leitungskräften und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wurden von Frau Tanja Redlich stellvertretende Heimleiterin aus dem Heimverbund Märkischen Schweiz vorgestellt. Gelingende Beteiligung in pädagogischen Prozessen und Interaktionen mit Kindern, Jugendlichen und Familien beginnt im Leitungsbereich von Organisationen und Einrichtungen. Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „Selbstwirksamkeit“ in organisatorischen Strukturen erfahren, werden mit Hilfe von gelebten und gepflegten Kulturen der Achtung und Wertschätzung partizipative Prozesse in der Interaktion mit jungen Menschen und Familien ermöglicht. Diese in den Alltag zu etablieren und konzeptionell untersetzen zu können, bedarf der stetigen Aushandlung und Überprüfung von Grundhaltungen. Mit Hilfe von mehreren Fortbildungsmodulen, der Entwicklung von Leitbildern und methodischen Hilfestellungen, wie z.B. Wiederkehrende Befragungen von Kindern und Jugendlichen in den Wohngruppen der Einrichtungen, Erstellung gemeinsamer Hausordnungen, Entwicklung von Heimbeiräten und Gruppensprechern usw., wurde anschaulich dargestellt, welche Schritte der Heimverbund in den vergangenen Jahren hierzu unternommen hat. Diese sind zum Teil nicht neu, aber entscheidend sind die wiederkehrenden und erforderlichen Überprüfungen und die Gefahr, in bestehenden Routinen die Sensibilität für Partizipation zu verlieren.

Demokratie spielend erleben! hatte Herr Martin Baumgartner- Heppner aus Oldenburg in dem von ihm geleiteten Workshop aufbereitet. Es wurde der Frage nachgegangen, wie zwischen Selbstbestimmung und Scheinbeteiligung unterschieden werden kann.  Wie sich herausstellt ist dies ein Vorwurf, dem sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder ausgesetzt sehen und auf deren Rückfrage „Was ist denn echte Partizipation?“ nicht unbedingt erhellende Antworten gegeben werden. Neben den viel zitierten Grundhaltungen und der beschriebenen „LeitKultur“ in Organisationen sind die kleinen Schritte zur erfahrbaren Partizipation, was darf und kann ich mitbestimmen? Worauf wird im Detail besonderer Wert gelegt? Was müssen Fachkräfte organisieren und was müssen sie nicht organisieren, aber darauf achten, dass Partizipation erlebt werden kann? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten und bedürfen der Abstimmung vor Ort in den jeweiligen Handlungsfeldern und Settings der Kinder- und Jugendhilfe. Wer sich bewußt für demokratische Strukturen und Partizipation entscheidet, ist gleichzeitig gegen Ausgrenzung! Diese einfache Formel klingt überzeugend und eröffnet das Handlungsfeld für gruppenpädagogische Prozesse, es erfordert von pädagogischen Fachkräften den Blick dafür, dass junge Menschen und Familien befragt und beteiligt werden, dass um Meinung gebeten wird und Einbindungen in Gruppengeschehen ermöglicht werden, Raum für den Austausch von Erfahrungen gegeben wird. Diese kleinen, wertvollen und anstrengenden Schritte werden als Grundhaltungen und erforderliche Anforderungen von den pädagogischen Fachkräften im Kontext von Partizipation und Mitwirkung verlangt.

Die Podiumsdiskussion mit den Referentinnen und Referenten war für die Teilnehmenden ein gewinnbringender Abschluss. Es schloss sich der Kreis von der Resilienzforschung, die klare Aussagen und Erkenntnisse für die Hilfen zur Erziehung und hier insbesondere für die stationären Hilfen aufzeigte: Wohngruppen und betreute Wohnformen unter dem Aspekt der Resilienzforschung zu betrachten, bedeutet, den Wert von stationären Hilfen zu benennen als sichere Orte für ein Aufwachsen, als Orte für emotionale Geborgenheit, als Orte für Gruppenzugehörigkeit und der Entwicklung von Selbstwirksamkeit, des Ausprobierens, der Annahme der Persönlichkeit usw.. Dies beinhaltet die Entwicklung einer Kultur des Widerspruchs. Widersprüche im Alltag von Erzieherinnen und Erziehern, von Organisationen, Kindern, Jugendlichen, Familien und Jugendämtern als Bestandteil einer gelungenen Auseinandersetzung zuzulassen. Der Nutzen für Partizipation und Mitwirkung ist im Alltag der pädagogischen Praxis nicht leicht zu erkennen, wenn Widersprüche und die Aufforderung zur Kritik den Alltag und das Gruppengeschehen sowie Entscheidungsprozesse eigentlich erschweren. Dieser Widerspruch in sich macht  unter anderem den gelingenden Alltag von Mitwirkung und Partizipation aus! Einerseits werden an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Heimerziehung und Hilfen zur Erziehung Erwartungen gestellt, die im Bereich der Sozialdisziplinierung liegen und schnelle, kurzfristige Erfolge vorausgesetzt werden, andererseits werden Beteiligungsformen zum Qualitätsmerkmal für gelingende Erziehungsprozesse gefordert und gesetzlich festgeschrieben. In diesem Widerspruch befinden sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und dazu bedarf es Leitungskräfte, die ebenso wie dies Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihren Handlungsfeldern gegenüber Kinder, Jugendlichen und Familien tun, die ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Erfahrungsräume und Handlungssicherheit für Partizipation bieten. Es bedarf des Mutes und der Zivilcourage sowie einer Streit- und Widerspruchskultur der handelnden Akteure  in der Kinder- und Jugendhilfe, sich für die Beteiligung stark zu machen und Widersprüche zuzulassen.

mitWIRkung – teilnehmen, teilhaben, teil sein

Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe – ist wiederkehrende Herausforderung und  Chance zur Veränderung zugleich!

Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an:

Siegfried Hutsch

Referat Frühkindliche Bildung, Jugendhilfe, Bundeskoordinator Jugendsozialarbeit

Tel. 0391/ 6293 335
Fax: 0391/ 6293 433
E-Mail: shutsch(at)paritaet-lsa.de

Martin Hoffmann

Referent Frühkindliche Bildung und Jugendhilfe

Telefon   0391 | 62 93 335
Fax         0391 | 62 93 596 335
E-Mail    mhoffmann(at)paritaet-lsa.de